Natalya (7) stoppt den Krieg in ihrem Kopf

Es ist 5:30 Uhr am 24. Februar 2022: Natalya wird von einem lauten Alarmton geweckt. Er klingt anders als der ihres Weckers, kommt von draußen und erfüllt die Straßen von Tschernihiw mit einem wogenden Heulen.

Auch zwei Jahre später ängstigen die heulenden Sirenen sie noch immer. Doch es ist etwas anders als damals: Natalya beginnt Wege zu finden, dem Krieg zu entfliehen – in ihren Gedanken und in der Realität.

Unterschlupf im Keller

Damals im Februar betreten ihre Mutter und ihre Schwester Sekunden nach dem Ertönen der Sirenen Natalyas Schlafzimmer. Ihr Vater schickt sie die Treppe hinunter in den Keller. Dort warten sie – zusammengekauert und schockiert. In ihrem dünnen Pyjama zittert Natalya.

Nur wenige Stunden zuvor, beim Schlafengehen, hatte sie ihrer Mutter noch erzählt, dass sie es kaum erwarten könne, am nächsten Tag in den Kindergarten zu gehen. „Aber das war vor dem Krieg“, sagt sie nun leise.

Umgeben von Gewalt

„Alle dachten, die Gewalt würde so schnell enden, wie sie begonnen hat“, erzählt ihre Mutter heute. „Aber dann folgten die groß angelegten Angriffe. Innerhalb weniger Stunden rückte die Armee immer näher an uns heran. Eine große Brücke in der Nähe unseres Hauses wurde gesprengt, um sie zu stoppen.“

Sie fährt fort: „Als Kampfflugzeuge eingesetzt wurden, trauten wir uns kaum noch aus dem Keller. Wir hatten weder Strom noch Heizung. In eisiger Kälte und voller Angst harrten wir aus – manchmal mit 20 Personen. Am Ende ging uns das Essen aus.“

Foto: Michael Jessurun | Untold Stories ©

Flucht von der Front

Nach ein paar Wochen bekommt Natalya Fieber. „Ich zitterte, obwohl mir gar nicht kalt war. Ich war krank, aber es gab keinen Arzt“, sagt sie. „Die Medikamente, die ich hatte, reichten nicht aus“, fügt ihre Mutter hinzu. „Es war endgültig klar: Wir mussten unser zu Hause verlassen.“

Nach einer riskanten Reise, auf der sie mehrfach durch Explosionen in unmittelbarer Nähe in Gefahr geraten, kommt die Familie in Kiew an. „Die Ärzte sagten uns, dass Natalya Probleme mit der Niere habe – ihr Zustand war kritisch.“

Die Angst wächst

Natalya überlebt ihre Krankheit. Die Familie kehrt nach Hause zurück und versucht, ihr Leben weiterzuführen. „Aber die Bedrohung bleibt – wir haben Angst“, sagt ihre Mutter. „Natalya hat Angst vor dem Krieg, Angst davor, wieder krank zu werden.“

Eine Angst, die nicht sofort entstand. Fast ein Jahr dauert es, bis Natalya das Geschehene überhaupt realisieren kann. „Sie begann sich vor allem zu fürchten, schlief schlecht und hatte viele Albträume.“

Der Angst begegnen

Auch als Natalya die Möglichkeit erhält, wieder zur Schule zu gehen, packt sie die Angst. „Am Anfang musste mich oft übergeben und habe alles vergessen, was ich gelernt hatte.“

Nach der Schule nimmt sie in einem geschützten Raum an unseren Aktivitäten teil – kann spielen, kreativ sein und lernt, über ihre Gefühle zu sprechen. „Sie kommt immer glücklich zurück“, sagt ihre Mutter. „Am besten gefallen mir die Tanzstunden“, fügt Natalya hinzu. „Ich zeichne auch gerne und necke die Lehrerin.“

Neue Hoffnung schöpfen

„Die positiven Auswirkungen auf Natalya sind nicht zu übersehen“, fährt ihre Mutter fort. „Ich bin unglaublich erleichtert, dass ich sie spielen und lachen sehe.“

In unserem Safe Space erhält auch Natalyas Mutter psychologische Unterstützung. „Denn all die Ereignisse sind immer noch in meinem Kopf“, sagt sie. „Hier lerne ich, wie ich mich um mich selbst kümmern und gleichzeitig eine gute Mutter sein kann.“

„Der Krieg hat Natalya die Kindheit geraubt“, fügt sie mit sichtbarer Rührung hinzu. „Aber gemeinsam mit War Child tun wir alles, was wir können, um sicherzustellen, dass sie nicht auch noch ihre Zukunft verliert.“