Wie die humanitäre Hilfe in Gaza zerfällt

12. Juni 2024

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Bereits im Januar haben wir gemeinsam mit 19 weiteren NGOs erklärt, wie die humanitäre Hilfe im Gazastreifen zusammenbricht. Seitdem hat sich die Situation vor Ort noch weiter zugespitzt. Aber was bedeutet das konkret für War Child? Sind wir immer noch vor Ort, um Kinder zu unterstützen? Sahar Smoom, unsere Landesdirektorin in den besetzten palästinensischen Gebieten, berichtet über die neuesten Entwicklungen.

Wie hat sich die Schließung des Grenzübergangs in Rafah auf die Arbeit von War Child ausgewirkt?

"Obwohl War Child durch lokale Teams und lokale Vermittlung arbeitet, hat die Schließung des Grenzübergangs Rafah massive Auswirkungen auf unsere gesamte Arbeit. Wenn ein Kind zum Beispiel seit Tagen nichts gegessen hat oder aufgrund eines amputierten Beins unter chronischen Schmerzen leidet, ist es unglaublich schwierig, ihm psychologische Unterstützung zukommen zu lassen, die auch wirklich sinnvoll ist.

Der Erfolg unserer Maßnahmen im Gazastreifen beruht seit jeher auf der engen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und anderen humanitären Organisationen. Die eine sorgt für die medizinische Versorgung, die andere für Unterkünfte, die dritte für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung und so weiter. Diese Arbeitsdynamik wird gerade auf die Probe gestellt, denn selbst die grundlegendsten Dinge sind praktisch nicht vorhanden."

Und was ist mit den Angriffen auf Rafah in der vergangenen Woche? Wie haben sich diese auf eure Arbeit ausgewirkt?

"Der größte Teil unserer Arbeit zur Unterstützung der Kinder im Gazastreifen fand in Rafah statt. Seit dort die Angriffe erfolgen, mussten wir diese Arbeit auf Eis legen, bis unsere Mitarbeitenden und wir neue Orte ausfindig gemacht haben, wo sie vorerst sicher sind und wir weiterarbeiten können.

Wir haben unsere Einsatzgebiete in die Mitte und den Norden des Gazastreifens, einschließlich Gaza-Stadt, verlagert. Aber da die israelischen Luftangriffe ohne Unterlass den gesamten Gazastreifen treffen, ist es äußerst schwierig, überhaupt irgendwo zu arbeiten."

Welche Unterstützung bietet War Child? Könnt ihr unter diesen Umständen den Kindern in irgendeiner Form psychologische Hilfe anbieten?

"Derzeit stellen wir weiterhin Lebensmittel, Wasser, Hygieneartikel und psychologische Ersthilfe zur Verfügung, wobei wir uns auf Kinder konzentrieren, die vor dem israelischen Bodenangriff in Rafah fliehen.

In den letzten Wochen hat War Child rund 550 Lebensmittelpakete an Familien in Khan Younis und im mittleren Teil des Gazastreifens verteilt.

Wir sind zwar nicht in der Lage, unsere Maßnahmen im Bereich der psychischen Gesundheit ausreichend durchzuführen, aber wir organisieren Freizeitaktivitäten, wo immer wir können. Wir haben sogar eine TeamUp-Sitzung am Strand abgehalten. Das reicht bei weitem nicht aus, aber es ermöglicht den Kindern, zu spielen und dem Krieg für einen Moment zu entfliehen."

Aber wenn keine Hilfsgüter nach Gaza gelangen, woher bekommen Sie dann die Lebensmittel?

"Im Moment ist die Menge der Hilfsgüter, die in den Gazastreifen gelangen, geringer als jemals zuvor in den letzten sieben Monaten. Große internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm der UNO arbeiten jedoch nach wie vor mit lokalen Lieferanten zusammen, um Lebensmittel, Treibstoff, medizinische Versorgung und andere Güter über die Grenze zu bringen. War Child koordiniert die Zusammenarbeit mit diesen Lieferanten und humanitären Organisationen, um sicherzustellen, dass diese Hilfe die Bedürftigsten erreicht.

Durch dieses System hat War Child seit Oktober dazu beigetragen, rund 70.000 Kinder mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern zu versorgen. Das ist aber kein Grund zum Feiern. Nur wenn ein sofortiger Waffenstillstand eintritt und die humanitäre Hilfe wieder ausreichend dort ankommt, wo sie benötigt wird, wird sich die Situation für die 1,1 Millionen Kinder, die dringend Hilfe benötigen, ändern."

Ist das alles, wofür sich War Child einsetzt – ein dauerhafter Waffenstillstand?

"Unsere wichtigste Forderung an die Staats- und Regierungschefs der Welt ist es, einen dauerhaften Waffenstillstand und den sicheren Transport von Hilfsgütern für Kinder und die Zivilbevölkerung im gesamten Gazastreifen sicherzustellen. Wir fordern zudem die nationalen Regierungen und den UN-Sicherheitsrat auf, alle bewaffneten Kräfte und Gruppen zur Rechenschaft zu ziehen, die Kinderrechtsverletzungen begehen.

Wenn ein Waffenstillstand erreicht ist, werden wir uns für eine dauerhafte politische Lösung einsetzen - denn es liegt in unserer Verantwortung zu verhindern, dass Kinder in der Region jemals wieder einer solchen Katastrophe ausgesetzt werden."

“Es liegt in unserer Verantwortung, Kinder davor zu schützen, jemals wieder einer solchen Katastrophe ausgesetzt zu sein."
Sahar Smoom, War Child Country Director
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Verteilung von Lebensmitteln in der Region Rafah, bevor die Angriffe zunahmen.

Foto: War Child

Was wird außerdem nach einem Waffenstillstand passieren? Gibt es dafür schon Pläne?

"Die Situation fühlt sich hoffnungslos an - in den letzten drei Tagen gab es weitere schreckliche Massaker in zentralen Bereichen des Gazastreifens. In Deir Al Balah, Buriej, Al Maghazi und Nussierat.

Aber ich sehe es als die Pflicht von War Child an, die Hoffnung aufrechtzuerhalten - sonst würde das bedeuten, die palästinensischen Kinder aufgegeben zu haben.

Sobald ein Waffenstillstand in Kraft getreten ist, sind wir bereit, die größte Nothilfe in unserer Geschichte zu starten und über eine Million Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland mit lebenswichtiger Unterstützung, mit Schutz, Bildung und nachhaltiger psychologischer Betreuung zu versorgen."